Die Ästhetik des Einfachen
Eine Positionsbestimmung mit dem Architekten Harald Henze aus Warburg
Reift die Entscheidung für eine Rückkehr in den Kreis Höxter, drängt sich alsbald die Frage nach dem neuen Zuhause auf. Anders als in den Ballungsräumen ist die Eigenheimquote im Kreis Höxter hoch, Mietwohnungen in dörflichen Lagen rar gesät. Möglicherweise steht aber mit Omas Häuschen schon eine Immobilie für den Neuanfang zur Verfügung, eventuell ist im Heimatort eine Bestandsimmobilie mit Potential günstig zu erwerben. Oder soll es doch lieber ein stadtnaher Neubau nach allen Wünschen sein? Glücklich kann sich schätzen, wem dabei ein guter Berater zur Seite steht.
Weniger als die Hälfte der Menschheit lebt auf dem Land. Viele zieht es aber wieder aufs Land, sei es als Rückkehrer zu ihren eigenen Wurzeln oder aufgrund der idealisierten Vorstellung aus Landlust und Co. Für Henze ist der Denkwandel, der auch durch die Corona-Pandemie nochmal beschleunigt wurde, eine Chance für ländliche Räume: ”Ich glaube, es beginnt in der öffentlichen Wahrnehmung gerade eine Konzentration zurück auf die Werte und Sicherheiten des Landlebens. Klar, dass in den Städten auch viele Impulse geboren werden, die dann oftmals zeitversetzt in den ruralen Raum einziehen. Aber mit steigendem Klimabewusstsein und Digitalisierungsschüben können wir es uns wohl auch nicht mehr leisten, die Potentiale ländlicher Gebiete nur auf Energie- und Lebensmittelerzeugung zu beschränken.“ Hier liegen für ihn die Chancen für zukunftsweisende Architektur und neue Technologien, die zum Teil auf den nachhaltigen Bauweisen der Vergangenheit beruhen. Die Kreislaufwirtschaft (Cradle to Cradle) von Bauteilen wie Holz, Lehm und Steinen wird heute ergänzt durch das Themenfeld erneuerbarer Energien und autarker Wärme- und Energieversorgung am und durch das Gebäude. „Im Kontext des ländlichen Raums und ortstypischer Architektur sind wir gemeinsam gefordert, gute Konzepte zu entwickeln. Sicherlich sollten wir nicht alles bauen, was möglich ist. Die entscheidende und qualitätswertende Bedingung muss dabei die ressourcenbezogene Betrachtung sein.“
Immobilien mit Potential
Viele Immobilien, gerade auch in den unterschiedlichen Lagen im Kreis Höxter, verfügen über hohes Potential, ist Henze sicher: ”Das individuelle Potential von Bestandsgebäuden muss erkannt, im Planungsprozess auf die Passgenauigkeit zu den Anforderungen untersucht und mit einem Konzept architektonisch herausgearbeitet werden.” Dazu gehört für den erfahrenen Architekten immer eine gründliche Substanzerkundung, denn einige Sanierungsfälle sieht der Laie erst auf den zweiten oder dritten Blick. Insbesondere bei der Nachnutzung von landwirtschaftlichen Hofstellen oder dem Umbau von Siedlungshäusern der Nachkriegsjahre sind Belastungen durch gesundheitsgefährdende Materialien wie Asbest oder Mauerwerksbeeinträchtigungen durch Tierhaltung nicht selten. Interessierte Klienten sollten im Rahmen mehrerer Objektbegehungen von einem Architekten und im Bedarfsfall auch Fachingenieur begleitet werden. Hier können anhand von Checklisten und ersten knappen Dokumentationen schon das Potential dargestellt und auf möglicherweise versteckte Mängel hingewiesen werden. “Selbstverständlich lassen sich diese Positionen mit Kosten versehen, so dass der Klient eine fachkundige Stellungnahme erhält. Das Potential der Immobilie wird also in Zahlen gefasst und greifbarer, so dass man zu einem frühen Zeitpunkt die Kosten der Immobiliensanierung bewerten kann.” 5-10% der Baukosten sollten als Rücklage für unvorhergesehene Arbeiten einberechnet werden.
Vergessen Sie, was Sie über das Bauen wissen
Neben den energetischen Fragestellungen und der technischen Gebäudeausstattung sind natürlich auch die individuellen Anforderungen und Wünsche der Bauherren zu berücksichtigen. „Ich rate dazu, alles zu vergessen, was man über das Bauen weiß, z.B. wie das Wohnzimmer im Elternhaus aussieht und dass ein Raum ein bestimmtes Maß haben muss. Wer bin ich, was macht mich aus, was mag ich, welche Bereiche benötige ich. Das reicht eigentlich aus.“ Mehr Mut zu neuen Räumen in vorhandenen Strukturen und den Klienten mitnehmen, das ist Henzes Ansatz in der gesamten Projektabwicklung. „Gebäudefunktionen, die jetzt überplant werden, sollten auch schon im Hinblick auf eine gewisse Flexibilität und sich ändernden Nutzerbedürfnissen einer zukünftigen Nutzung mitgedacht werden, z.B. wenn die Kinder aus dem Haus sind”, öffnet Henze den Planungshorizont weiter. Die Corona Pandemie hat bestimmt so manchem das fehlende Arbeitszimmer für das Homeoffice oder das Homeschooling bewusst gemacht. Auch die Digitalisierung des Gebäudes und der Gebäudetechnik schreiten immer weiter voran. Hier sind Fachleute und Planer gefragt, die Bedarfe der Zukunft schon heute mitdenken und die Anforderungen planerisch einfließen lassen.
Architektur für Land & Dorf
“Architektur muss nicht gefallen, Architektur darf auch kontrovers sein und auf Ablehnung stoßen.“ skizziert Henze die freie Rolle von Architektur. Es gibt für ihn aber trotzdem wesentliche Unterschiede für gute und schlechte Architektur, die gerade bei der Überplanung von Gebäuden im Bestand schnell deutlich werden. Dazu zählt zum Beispiel die Beachtung der ursprünglichen Gebäudetypologie, den regionalen Baustoffen oder Proportionen, so wie sie im Kreis Höxter in vielen Dörfern und Städten Ähnlichkeiten, aber eben auch Eigenarten aufweisen. Bei der Nachverdichtung von Dorf- und Stadtkernen kann es guter Architektur nicht nur darum gehen, ein neues Gebäude als prunkvollen Solitär oder praktischen Lückenfüller zu planen. Sie muss vielmehr vielschichtige Beziehungen aufbauen, soziale Komponenten berücksichtigen und eine ganzheitliche Quartiersentwicklung im Blick haben. „Gute Architektur birgt die Chance für dörfliche Lagen, das Ortsbild individuell und integrativ weiterzuentwickeln, lebendige Begegnungspunkte zu schaffen. Das muss unsere Gesellschaft wahrnehmen, damit ländliche Räume lebenswert bleiben und um in Zukunft nicht nur als Wohn- und Schlafstätten zu dienen,“ ist Henze sicher. Dagegen steht eine Architektur der Belanglosigkeit, von leblosen Wohngebieten, die sich zusehends ähneln. Hier geht für den Architekten auch ein wesentliches Stück Identität im ländlichen Raum verloren. „Ich bin immer wieder fasziniert von der Angemessenheit und Natürlichkeit ursprünglicher Ortskerne oder von den Ackerscheunen, die sich wie selbstverständlich und mit einer ganz eigenen klaren Ästhetik harmonisch in die Landschaft einfügen.“ Maß für Qualität von Gebäuden ist Stimmigkeit, sind Proportionen, Materialität, schlussendlich vielleicht in der Summe Schönheit und Einzigartigkeit, die die Aufenthaltsqualität positiv beeinflusst und eine Strahlkraft auf den ganzen Straßenzug oder den Ortskern entfalten kann. “Dazu sollte man auch Visionen zulassen und gute Leute mit mutigen Ideen und Nutzungskonzepten zusammenholen. Hier ist interdisziplinäre und enge Zusammenarbeit mit allen Projektakteuren nötig. Anders und neu zu denken ist heute viel wichtiger als vor ein paar Jahrzehnten, weil sich die Lebenswirklichkeiten und Bedarfe massiv verändert haben. Zirkuläre Materialkreisläufe, modulare Bauweisen, Smart Buildings, neue Wohnformen oder Raum für alternative Lebensentwürfe sind für unsere Dörfer viel wichtiger als immer mehr uniforme Wohngebiete auszuweisen. „Ich denke, dass der ländliche Raum hier besondere Möglichkeiten hat, denen er mit frischen Konzepten strukturell begegnen sollten.“
Zur Person: Gute Architektur als kreativer und konstruktiver Umgang mit vorhandenen Ressourcen wie beispielsweise dem Ort mit seiner spezifische Baukultur, den materiellen und klimatischen Bedingungen sowie den individuellen Bedürfnissen des Bauherrn und die Notwendigkeit nachhaltigen Bauens bilden die Motivation von Architekt Harald Henze aus Warburg. Henze ist selbst Rückkehrer und mit seinem Büro AH+ in einem wachsenden Team an den Standorten Warburg und München tätig. Er hat bis 2019 in leitender Funktion als angestellter Architekt unter anderem Großprojekte für die Fraunhofer Gesellschaft begleitet und ist mit seinem Büro nun neben öffentlichen Bauherren auch immer wieder für private Bauherren engagiert.
Bild: AH+